Ohne schlechtes Gewissen gut leben und arbeiten? Die Digitalisierung von Arbeitsprozessen und die Möglichkeit immer und jederzeit arbeiten zu können: Chance für eine ausgeglichene Life-Balance oder Untergang des Privatlebens? - von Natascha Tegeler, Beraterin
Den einen gilt sie als die Möglichkeit, Beruf, Familie und Freizeit einfacher zu vereinbaren, als Chance, Karrieren – auch und insbesondere von Frauen – selbstbestimmt und individuell zu gestalten und dem Fachkräftemangel durch die volle Integration der größten Ressource auf dem Arbeitsmarkt – den Frauen ohne oder in Teilzeitbeschäftigung – entgegenzuwirken. Anderen gilt sie als „Treiber einer Entgrenzung, Intensivierung und Extensivierung der Arbeit; (…) als Gefahr der Selbstausbeutung und psychischen Überlastung“[1].
Die Rede ist von der Digitalisierung von Arbeitsprozessen auch jenseits der Industrie und der mit dieser Entwicklung einhergehenden Möglichkeit der Arbeit an und mit mobilen Endgeräten.
Beiden Positionen gemein ist die Sorge um die ausgewogene Balance zwischen Arbeit und dem privatem Leben der Beschäftigten. Diese sogenannte Work-Life-Balance wird nach wie vor von vielen als ein irgendwie harmonisches Gleichgewicht zweier gegensätzlicher Welten vorgestellt, die jede Frau und jedermann mit viel Geschick und Organisation täglich auszubalancieren sucht.
Doch, was vermeintlich für Ausgeglichenheit steht, „endet in Wahrheit meist in Stress, Überforderung und Unzufriedenheit“[2]. Irgendetwas kommt immer zu kurz, so empfinden es viele: die Kinder, die Familie, der Haushalt, die Partnerschaft, die Freunde, die persönliche Entwicklung, der Sport … oder eben, und das nicht zuletzt bei Frauen, die Karriere.
Der Brauch der langen Arbeitstage
Der Hintergrund dafür ist ein althergebrachter Arbeitsethos, der sich hartnäckig in den Köpfen hält: Die Arbeit im Home Office, die sog. Telearbeit, oder Teilzeitarbeit „gilt noch heute vielen Unternehmen als Stigma. Wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter in Teilzeit geht oder den Wunsch nach mehr Flexibilität äußert, wird sie oder er oft nicht mehr als verlässlich empfunden, und der berufliche Aufstieg wird schwieriger. Mitarbeiter mit hoher Visibilität und Erreichbarkeit sowie langen Präsenzzeiten gelten noch immer als besonders produktiv“[3], konstatiert die Schweizer Managementprofessorin Caroline Straub.
Und dies hat Auswirkungen auf die Karriere: „Entscheidend für eine Karriere ist nach wie vor die Vollzeitanwesenheit und damit die Präsenz am Arbeitsplatz. (…) (B)ereits eine Reduktion der Arbeitszeit um nur 10 Prozent, also auf 90 Prozent einer Vollzeitstelle, bedeutet, dass die Karrierechancen halbiert werden.“[4] Und eben diese in vielen Bereichen immer noch vorherrschende „Präsenzkultur oder auch, Brauch der langen Arbeitstage‘“[5] wirkt sich zu Ungunsten der Karriere insbesondere der Arbeitnehmerinnen aus. Denn nach wie vor arbeitet aufgrund der tradierten Arbeitsteilung der Geschlechter, „knapp jede zweite Frau (2016:46,3 Prozent) (…) in Teilzeit, das heißt weniger als die tariflich oder vertraglich normalerweise vereinbarte Arbeitszeit“[6].
Die Arbeit 4.0, also die flexible zeitliche und räumliche Gestaltung von Arbeit mit Hilfe mobiler Kommunikationsformen und Arbeitsmittel, verspricht – in den Branchen und Berufsfeldern, in denen dies möglich ist –Karrierewege jenseits der bisher gängigen, die mit Vollzeitarbeit, Präsenzpflicht und kontinuierlicher Erwerbstätigkeit assoziiert waren.
Es könnten „agile, nicht stringente und horizontale Karrieren entstehen, die Karriereunterbrechungen, Führung in Teilzeit, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben sowie auch Karrieren ab einem Alter von 50plus erlauben (…). Damit könnte die sogenannte Rushhour des Lebens, wie sie – verbunden mit Karriere und Familiengründung – in den Lebensjahren zwischen 20 und 40 stattfindet, entzerrt werden.“[7]
Neue Formen der Arbeitsorganisation böten nicht nur solchen Frauen, die heute oftmals so eifrig wie erfolglos und auf Kosten ihrer Gesundheit versuchen, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen, sondern jener Mehrheit der insbesondere jungen Generation, für die die Vereinbarkeit von Work und Life noch vor der Karriere an erster Stelle steht, attraktive Wege ein erfolgreiches Berufsleben mit einem erfüllten Privatleben überein zu bringen.
Reicht es also, die Unternehmen zum Umdenken zu veranlassen – mittels Unternehmensberatung und Coaching? Weg von einer Förderung der Anwesenheits- hin zu einer Ergebniskultur, in deren Mittelpunkt die Qualität der Arbeit und nicht die Quantität der Anwesenheit steht? Leider nein. Mit dem althergebrachten Arbeitsethos der Präsenz korrespondiert auf Arbeitnehmerseite eine Haltung, die, konsequent gelebt, zur Folge hat, dass das Arbeits- das Privatleben verdrängt.
Selbstverpflichtung auf permanente Erreichbarkeit
Die Digitalisierung bietet den Beschäftigten die Möglichkeit, z. B. anhand der Arbeit in der Cloud, von überall und immerzu zu arbeiten: Daheim, in der Bahn, am Strand, auf dem Campingplatz, in Cafés, auf dem Spielplatz usw. Aber: „Häufig steht nicht im Zentrum, anstatt im Büro zu Hause zu arbeiten, sondern ‚sowohl als auch‘.“[8] Es hat sich eine Kultur etabliert, die, obwohl von kaum einem Arbeitgeber gefordert, die Selbstverpflichtung auf permanente Erreichbarkeit zum Inhalt hat. Verwundert es da, dass sich nach wie vor zwei Drittel der Arbeitnehmer*innen danach sehen, Arbeitszeit und Freizeit weiterhin strikt voneinander zu trennen?[9]
Doch seien wir ehrlich: Fakt ist, dass die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben immer mehr verschwimmen und dies immer weiter tun werden, eben weil es möglich ist – und zwar in beide Richtungen. Zwar sind rund die Hälfte aller Fach- und Führungskräfte dank Smartphone und anderer mobiler Endgeräte theoretisch jederzeit erreichbar und aufgrund von Cloudlösungen im Stande von fast jedem Ort der Welt zu jeder Zeit zu arbeiten. Rund drei Viertel der Fach- und Führungskräfte nutzen ihre digitalen Endgeräte aber während der Arbeitszeit auch privat.[10] So gut wie jede und jeder, der bei der Arbeit Zugang zu digitalen Medien hat, hat bereits „mehrere Minuten (oder gar Stunden) während der Arbeitszeit mit Facebook, Instagram und Co. verbracht und mit schlechtem Gewissen gehofft, dass der Chef nichts mitbekommt“[11]. Mit diesem Schuldgefühl auf der Arbeit korrespondiert das private, wenn am Abend, am Wochenende oder in den Ferien berufliche E-Mails abgerufen werden. Von welcher Seite es auch betrachtet wird: Die Verschmelzung von Arbeits- und Privatleben sorgt oftmals für Schuldgefühle und dem Eindruck, nirgendwo und nie richtig (da) zu sein und somit zu einem als unbefriedigend erlebten Lebensgefühl.
Um als Unternehmen zukunftsfähig zu bleiben, d. h. als Arbeitgeber attraktiv auch für die kommende Generation zu sein, sowie als Arbeitnehmer zu einer ausgewogenen Lebensbalance zu finden, ist die Abkehr vom dualistischen System der Work-Life-Balance als einem Konzept einander gegenüberstehender und bestenfalls ausgleichender Sphären hin zu einem Konzept der Work-Life-Integration, wie es Caroline Straub fordert, notwendig.
Individuelle und kollektive Ressourcen sinnvoll einsetzen
Die Work-Life-Integration geht nicht von einer bloßen Vermischung, sondern von der Integration beider Lebenssphären aus. In diesem Konzept ist es selbstverständlich Privates während der sogenannten Arbeitszeit und Berufliches während der sogenannten Freizeit zu erledigen. Gelingt eine Work-Life-Integration, lassen sich auch die Zeiten, die auf der Arbeit mit „Nichtstun“ vertan werden, produktiv nutzen – wenn auch für private Dinge.Ziel des Konzeptes der Work-Life-Integration ist es, die individuellen wie kollektiven Ressourcen möglichst so einzusetzen, wie es am sinnvollsten ist, um so die 24 Stunden eines Tages möglichst effektiv aber auch erfüllend zu nutzen. Und das ganz ohne schlechtes Gewissen.
Um vom Konzept der Work-Life-Balance zu gelebter Work-Life-Integration zu kommen, braucht es noch viel – bei den Organisationen ebenso wie auf der individuellen Seite. Voraussetzung dafür, dass sie gelingt ist aber immer ein hohes Maß an Selbststeuerung beider Parteien sowie die Offenheit dafür, in jedem Betrieb mit den Mitarbeiter*innen adäquate Lösungen zu entwickeln und mit Leben zu füllen. Dies gilt gerade und insbesondere auch für kleine und mittelständische Unternehmen, die gegenüber den großen Playern derzeit im Hintertreffen sind. Mit welchen Mitteln die Entwicklung einer gelebten Work-Life-Integration gelingen kann – und wo Vorsicht geboten ist: Dazu hier in Kürze mehr.
[1] Busch-Heizmann, A., Entgelmeier, I., Rinke, T., Working Paper Forschungsförderung Nummer 092, Digitalisierung und Entgrenzung, September 2018, zit. nach: www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_092_2018.pdf, Stand: 04.07.2019
[2] Ursoleo, Tanja, Work-Life-Balance im Zeitalter der Digitalisierung, 19.12.2018, zit. nach: www.annabelle.ch/leben/gesellschaft/work-life-balance-im-zeitalter-digitalisierung-48873, Stand: 04.07.2019
[3] Straub, Caroline, zit. nach Ursoleo, Tanja, zit. nach: s. Anm. 2
[4] Preißing, Dagmar, Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, in: Preißing, Dagmar, Frauen in der Arbeitswelt 4.0, Berlin 2019, S. 64
[5] Ebenda, S. 65
[6] Werner, Christine, Berufsspezifische Entwicklungen in der Arbeitsweilt 4.0, in: Preißing, Dagmar, s. Anmerkung 4, S. 23
[7] Preißing, Dagmar, s. Anm. 4, S. 97
[8] Institut für angewandte Psychologie, Studie II: Der Mensch in der Arbeitsweilt 4.0, 2017
[9] Vgl. Institut für angewandte Psychologie, Studie I: Der Mensch in der Arbeitsweilt 4.0, 2017
[10] Vgl.: ebenda
[11] Fichtel, Jessika, Work-Life-Balance war gestern, www.arbeits-abc.de/work-life-integration, Stand: 04.07.2019.
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